Adele warf ihre volle Einkaufstasche eilig auf den Küchentisch, nahm sich kaum Zeit, ihre Jacke ordentlich auf den Kleiderbügel zu hängen und ging still in sich hinein lächelnd in ihr Zimmer. Dort am Schreibtisch machte sie es sich bequem. langsam schlug sie ihre Briefmappe auf und legte sich Schreibblock und Federhalter zurecht. Nach einer kurzen Zeit der Besinnung begann sie in ihrer kleinen – um Deutlichkeit bemühten – Schrift einen Brief:
Lieber Freund, eben vom Einkaufen nach Hause zurück, möchte ich dir ein Gefühl, das mich auf dem Heimweg überkam, mitteilen, vielmehr darreichen, wie man einen Blumenstrauß, am Wegesrand gepflückt dem Liebsten daheim schenkt.
Als ich den Jägerweg, mit der schweren Einkaufstasche behängt, entlang ging, war ich beim Anblick der fleißigen Anwohner, die mit Laubfegen und sonstigen jahreszeitlich bedingten Arbeiten beschäftigt waren, nur mit meinen Pflichten und Besorgungen in Gedanken beschäftigt. Dann aber kam ich am Ende der Straße auf das freie Feld und mein Blick löste sich aus der inneren Enge und durfte sich an der Weite der Landschaft erfreuen. Auf der dunklen Erde, frisch gepflügt und geeggt, spazierten Rabenvögel emsig auf und ab. Hinter dem Feld liegen, wie du weißt, Busch- und Baumgruppen so richtig malerisch. Das wäre ein Motiv für einen Künstler! Und wie wünschte ich mir, eine Dichterin zu sein, dann könnte ich dir das Bild so schildern, dass es dich erfreuen würde, so wie es mich erfreut hat. Aber dann kam der Höhepunkt.
Die Wolken schoben sich ein wenig beiseite, sodass die Sonne auf die Schönste der Baumgruppen schien und das kräftige Grün hell erleuchtete. Das war ein Anblick! sage ich dir. Ach, wenn ich doch eine Dichterin wäre, dann könnte ich dir meine Gefühle dabei mit den richtigen und treffenden Worten schildern und du würdest dasselbe erleben wie ich, genau das ist doch meine Sehnsucht. So aber kann ich dir nur mitteilen, dass ich etwas Schönes im Herzen erlebt habe, aber vom Schönen selbst bringe ich nichts zu dir, oder? Kannst du mich verstehen? Ein wenig?
Ach, ein Dichter versteht es, einem das Herz warm zu machen, sodass man genau dasselbe beim Lesen erlebt wie es im Ursprung, ich meine im Erlebnis des Dichters, durch das er erst zum Dichten veranlasst wurde, also wie es da gewesen war.
Ich habe nun einmal kein Talent zum Dichten. Wie beneide ich die, die das können. Wozu habe ich überhaupt ein Talent? Ich weiß es, zum Erfinden. Ich meine, jedes Talent ist ein Gottesgeschenk und soll zu etwas Nutzbringendem verwendet werden, zu etwas Notwendigem gebraucht werden, eine Not in ein Glück zu wenden. Und das, glaube ich, kann ich mit meiner Fähigkeit etwas zu erfinden. Das brauche ich dir ja gerade nicht erst zu beweisen, habe ich dich, mein Geliebter, für mich doch erfunden! Ich weiß ja nicht wo in der weiten Welt du dich aufhältst, irgendwo musst du , ich fühle es, sein. Ich bin auf der Suche nach dir und du wirst ja wohl auch hoffentlich auf der Suche nach mir sein.
Noch haben wir uns nicht gefunden und bis dahin habe ich dich eben erfunden. Das hilft mir über die Wartezeit hinweg. Ich habe dir schon so viele Briefe geschrieben und sie für dich aufbewahrt. Da wirst du viel zu lesen haben, wenn wir uns endlich getroffen haben werden. Nimm dir einen Tag Zeit dafür und du weißt am zweiten Tag schon so viel von mir, so viel wie sich in Jahren für dich angesammelt hat.
Als ob wir uns schon Jahre gekannt hätten …”
An dieser Stelle dachte Adele: “Hier beende ich meinen stillen Liebesgesang und lege die Feder beiseite.”
Da klopfte es an der Tür und ihr Mann schaute herein. “Wann gibt es heute was zu essen? Ich will ja nur fragen und nicht drängen. Wir wollten doch um drei Uhr beim Zahnarzt sein.”
Alle Rechte: RS